Statt eines Vorworts:

Kurzer Versuch über Michael Luthers „Heimsuche“

 

In einem seiner ersten Bilder, Anfang der 1990er Jahre entstanden, sieht man einen Jungen, der etwas verloren in einer schemenhaft-tektonischen Berglandschaft steht. Wie hineingestellt und fragend: Wie komme ich hier her? Wo bin ich? Was mache ich hier? Das Bild ist eine der wenigen figürlichen Arbeiten von Michael Luther. Und es zeigt nicht irgendeinen Menschen, sondern den Künstler selbst. Michael Luther als Kind am Diedamskopf im Bregenzerwald. Ein retrospektives Selbstbildnis als kleiner Junge am großen Berg. Ein Bild voller Fragen und Melancholie.

Michael Luther hat dieses Selbstporträt nach einer Fotovorlage gemalt und damit gleich zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn thematisiert, was ihn bis heute anzutreiben scheint. Es ist die Suche nach sich selbst, nach der künstlerischen wie persönlichen Identität. Und als Ausgangspunkt hierfür steht sinnbildlich dieses Kindheitserlebnis, das die eigene Befindlichkeit, die Ungeborgenheit und Fremdheit in der Welt, auf den Punkt bringt.

Mit der Ausstellung „Heimsuche“ in der Städtischen Galerie „Fähre“ präsentiert sich der gebürtige Saulgauer und Wahlberliner nun erstmals in seiner Heimatstadt. Sie bildet gewissermaßen den Auftakt einer losen Reihe, die eine (Wieder-)begegnung mit Künstlern ermöglicht, deren Karriere sie aus Oberschwaben weg geführt hat.

Die breit angelegte Schau zeigt einen repräsentativen Querschnitt durch Michael Luthers Schaffen der vergangenen 10 Jahre. Seine Malerei, so vielfältig und heterogen sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist bei näherer Betrachtung das konsequente Zeugnis eines Künstlers, der über Jahre hinweg auf den verschiedensten Wegen die Möglichkeiten und Grenzen der Malerei erkundet und durchgespielt hat. „Ich komme aus der Farbe heraus“, sagte er selbst und unterstreicht damit seine Haltung zur Farbe, die Ausgangspunkt, Mittel und Sujet seiner Malerei ist.

Gleichzeitig zieht sich durch sein Werk wie ein roter Faden die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte und dem Kunstmarkt – seine Bilder sind Reflexionen über das Wesen der Kunst, die von subtiler Ironie bis hin zu expliziter Kritik reichen. Ob Informel oder Hyperrealismus: Luther arbeitet sich an allem ab, was ihm Stimulus für seine Feldforschungen in Sache Farbe sein kann. Dabei schafft er eine Bildwelt, die sein Suchen nach dem eigenen Standort – seine „Heimsuche“ – auf eindrucksvolle Weise widerspiegelt.

Und wenn wir bei dieser „Heimsuche“ auch an „Heimsuchung“ denken, so scheint diese Assoziation, die im Ausstellungstitel anklingt, nicht ganz zufällig. Begegnet uns in Michael Luthers Werk doch ein Künstler, von dem die Malerei regelrecht Besitz ergriffen hat, der von ihr sozusagen „heimgesucht“ wurde. Nur so scheint erklärbar, mit welch stupender Technik und bedingungsloser Hingabe, ja fast Besessenheit, er Bilder schafft, die große Gefühle und eine tiefe Sehnsucht offenbaren. Von einem elegisch-melancholischen Grundton getragen,  konfrontieren sie den Betrachter vielfach mit elementaren menschlichen Stimmungen und Befindlichkeiten, die die kühle Poesie seiner Werke als regelrechte Seelenlandschaften erscheinen lassen.

Bei aller Ernsthaftigkeit seiner persönlichen und künstlerischen Auseinandersetzung zum Thema Identität und Heimat gelingt ihm immer wieder auch die ironische Brechung und Distanzierung. Besonders eindrücklich in einem Bild, das einen rosa-türkis-gelb-weißen Bettbezug zeigt und den Umschlag dieses Kataloges bildet. „Heimweh“ lautet der viel sagende Titel dieser Arbeit, die die Ambivalenz des Heimatbegriffs vielleicht am treffendsten zum Ausdruck bringt. Das weiche Federbett in seinem faltigen, matten Baumwollglanz, das einen einerseits zu wärmen und andererseits auch zu ersticken vermag, steht paradigmatisch für ein von Klischees und Sehnsüchten überfrachtetes Gedankenkonstrukt. Es weckt Erinnerungen an die Enge und den kleinbürgerlichen Muff der 1970er Jahre, dem zu entkommen, so scheint es mir, offenbar nicht vollständig möglich ist. Als Ausweg bleibt nur die heiter-kritische Annäherung.

Michael Luthers „Heimsuche“, ausgehend vom frühen Selbstporträt als kleiner Junge am großen Berg bis hin zu den jüngsten Arbeiten, offenbart sich uns als Prozess, der durch außerordentliche Disziplin, Kraft und Ausdauer geprägt ist. Er blickt dabei nicht verklärend auf eine vermeintlich heile Vergangenheit zurück. Stattdessen drückt sich in seiner Arbeit Heimat eher aus als Utopie und Hoffnung auf etwas Zukünftiges: Heimat als etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, wie es Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“ formulierte. Luthers Bilder, insbesondere seine Interieurs, künden von der Heimat nicht als geografischem oder biografischem Raum, sondern von einer mentalen und seelischen Perspektive: Heimat als Nicht-Ort, Heimat als Zustand, den es zu erarbeiten gilt.


Andreas Ruess, Städtische Galerie Fähre, 2010 | Katalogtext zu „heimsuche“