Konstruktion als Reproduktion

zu den Gemälden von Michael Luther

 

Wir sind es gewohnt, Malerei in einer Dimension wahrzunehmen. Diese Maßstäblichkeit wurde im Rezeptionsverhalten angesichts klassischer Malerei gelernt. Und es scheint, selbst die Entwicklung einer abstrakten Formensprache in der Kunst der Moderne hat uns nicht davon abgebracht, das Bild der Malerei mit dem Abbild der Realität zu vergleichen. Michael Luther führt uns mit seinem Werk aus dieser Sackgasse heraus.
 
In den Gemälden nimmt er eine Verbindung von Mikro- und Makrokosmos vor, die unvergleichlich ist. Um dafür ein Bild zu finden, könnte man sich Gulliver im Land der Riesen, genannt Brobdingnab, vorstellen, wie er durch ein Mikroskop die Oberfläche eines Gemäldes untersucht. Für ihn ist ein Gemälde eine riesige Farbfläche, die keine Struktur aufweist und der Blick durch das Mikroskop verschafft ihm kaum mehr Erkenntnis. Der zeitgenössische Betrachter der Werke von Michael Luther findet sich in einer angenehmeren Situation: Er hält sich sowohl im Lande Lilliput als auch im Lande Brobdingnab auf. Er kann deutlich die Farbansammlungen erkennen und er ist sich bewusst, dass er eine Nahansicht wahrnimmt. Die Dimensionen der Gemälde von Michael Luther aber führen eine weitere Dimension ein. Der Blick in das Detail lässt es deutlich werden: So zeichnen sich auf einem blauen Farbfleck als Spiegelung die Umrisse eines Fensters ab. Wer dieses "Thema" einmal in den Bildern gefunden hat, wird es in den anderen Gemälden des Zyklus immer wieder auftauchen sehen, mal deutlich, mal verschwommen. Und das Thema erscheint wie ein Basso continuo des gesamten Zyklus. Jenes Detail aber kann zum Schlüssel des Verständnisses werden.
 
Denn die Fenster-Metapher ist eines der zentralen Topoi der abendländischen Malerei. Es könnte schon von einem strategischen Vorgehen gesprochen werden, wenn Michael Luther dieses Motiv zu verstecken scheint. Vielleicht geschieht dies auf dem Hintergrund jener klassischen Bildwerke von Adolph von Menzel und Henri Matisse, die das Fenstermotiv als zentrales Bildelement aufweisen. Aber tatsächlich ist das Fenster einer ursprünglichen Erfahrung zu verdanken und nur indirekt eine Referenz an die alten Meister: Das Fenster spiegelte sich tatsächlich in dem Farbberg, den der Künstler im Foto festhielt und dann danach auf die Leinwand brachte. Wenn der Betrachter also vor dem Gemälde steht, nimmt er eine Ateliersituation wahr. Er findet eine Abbildung eines Details dieser Situation vor: Der KÜnstler im Atelier. Diese Abbildungsleistung findet ihren Kern in der Spiegelung der Fenster des Ateliers. Dabei nehmen wir aber nur den kleinsten Ausschnitt aus einer komplexen Realität wahr, deren vollständige Abbildung nie gelingen wird. Schon die Metapher des Fensters enthält einen Hinweis auf die Unvollständigkeit unserer Wahrnehmung, denn das Fenster zur Welt ist immer nur ein Ausschnitt.
 
Die "Reduktion" auf das eigentliche Arbeitsmaterial aber erweist sich im Ergebnis als eine Ausweitung. Denn zum einen entschlüsselt Michael Luther damit die Grundlage der Malerei in ihren materiellen Bedingungen. Unterschiedliche Farben überlagern sich in Wülsten und Schlieren auf dem Gemälde und ergeben ein Bild, das je nach Gestalt und Form zu einem Abbild wird oder rein abstrakt ist. Dabei wird aber andererseits die physische Materialität transzendiert und wir vergessen sie vor der Ansicht. Michael Luthers Werke aber bewahren die Ein - und Ansicht der Produktionsbedingungen. Das ist ihr konstruktiver Gehalt, in dem das Abbild als Bild gezeigt wird. Und dennoch sind diese Gemälde auch Abbildungen jener Farbanhäufungen, die das Gemälde bilden. Die Reproduktion als Abbildung verweist dann immer auch auf den Akt der Konstruktion.
 
Ob es sich bei den Gemälden von Michael Luther um ein Abbild oder um eine abstrakte Komposition handelt, ist nicht zu entscheiden. Es liegt im Auge des Betrachters, sich für die jeweilige Version zu entscheiden. Aber dennoch finden wir in den Titeln der jeweiligen Arbeit einen Hinweis zur Entschlüsselung. Schon in der "Komposition" mit dem Titel "Cyan, Magenta und Titan" gewinnen die Farbschlieren eine Körperlichkeit, die gedeutet werden will. Und wer will kann diese Deutung auch schon im Titelbestandteil "Titan" entdecken, denn in ihm finden sich die riesenhaften Götter der griechischen Mythologie wieder. Wer die Farbberge in ihrer Maßstäblichkeit wahrnehmen will, wird als Betrachter selber zu einem Titan. Eine konkretere Deutung schlägt die Arbeit mit dem Titel "Die große Liebe" vor. Dabei verweist die fleischliche Körperlichkeit der Farbspuren auf die zwischenmenschliche Liebe. Aber was hält uns davon ab, unter der großen Liebe nicht auch die Liebe zur Malerei zu verstehen? Mit seinem Werk hat Michael Luther auf jeden Fall einen beispielhaften Beleg für diese Liebe vorgelegt.

Thomas Wulffen, 2003 | Katalogtext zu „Michael Luther – in Farbe“