Urbilder und Abbilder

 

Das Atelier von Michael Luther im Berliner Bezirk Friedrichshain besteht aus einem Raum mit annähernd quadratischer Arbeitsfläche, die von Neon-Oberlichtern kühl ausgeleuchtet wird. Der schachbrettartig gewürfelte Bodenbelag, die Bücherregale und einige mit der Bildseite zur Wand gestellte Leinwände deuten auf die konzentrierte Arbeitsatmosphäre eines präzisen, wenn auch rastlos angespannten Geistes hin. Die prominent im rückwärtigen Teil des Ateliers positionierte Bar mit rundem Tresen dient dabei nicht nur der notwendigen Entspannung, sondern auch als Ort des Rückzugs, von dem aus der Künstler seine Arbeit, Abbilder und Urbilder einer in Zweifel geratenen Wirklichkeit, überblicken kann.
 
Der einleitende Passus beschreibt eine konkrete Ateliersituation, kann aber auch als Bild gelesen werden, das Luther 2006 zum Thema Atelier inszenierte. Neben den Werkzeugen des Malers (wie Leiter, Staffelei, Farbmaterialien) zeigt diese kleinformatige Atelierszene die noch unvollendete Arbeit "art", rekurriert also auf den klassischen Topos "Bild im Bild". Während die Darstellung des Ateliers bereits auf das Spannungsverhältnis realer Arbeitsbedingungen und imaginärer Produktion hinweist, werden diese Momente künstlerischer Selbstreflexion durch das Zitat des Covers der Kunstzeitschrift "art" weiter zugespitzt und radikalisiert.
 
Worum es dabei geht, ist unmittelbar ersichtlich und nicht weniger einfach wie komplex und für den Künstler existenziell: um Kunst; um die Bedingungen ihrer Produktion, Wahrnehmung und Vermarktung als "art" (Kunstvertrieb) und in "art" (Medien). Bezeichnenderweise verwendet Luther eine Ausgabe der Kunstzeitschrift (Nr. 6/Juni 2004), die eine Arbeit des Leipziger Künstlers Tim Eitel medial vermittelt. Das Original von Eitel wiederum, übrigens ein Querformat, thematisiert die Erwartungen des Betrachters nach einem erkennbaren und interpretierbaren Bildgegenstand. Was auf den ersten Blick klar begrenzt und übersichtlich scheint, wird durch den Fotografenblick des Mädchens in eine Ferne außerhalb des Bildes gelenkt. Erst im Auge des Betrachters gewinnen reales und imaginiertes Bild ihre Vollständigkeit. Zwar verzichtet Luther auf die ‹bernahme des Titels der Kunstzeitschrift ("Schöne Fluchten – Der neue Trend zum Idyll in Malerei und Fotografie") – der Barcode am rechten Bildrand weist jedoch in aller Deutlichkeit auf den Warencharakter von Kunst, auf die enge Verflechtung von Produktion, Rezeption und ökonomischer Vermarktung hin.
 
Eine zusätzliche inhaltliche Ebene des Atelierbildes erschließt sich aus einem weiteren "Bild im Bild", das auf der Staffelei steht und die Pole von Luthers künstlerischer Arbeit aufzeigt: Fotorealistische Gegenständlichkeit und Farbabstraktion. Hier wird Farbe in Form von Pinselstrichen von einem undefinierten Zentrum verwischter Farbschlieren aufgesogen, gleichsam energetisch transformiert. Neben der erwähnten Reflexion des (externen) Kontextes, in dem Kunst entsteht, zielt "Pinselstriche 1" auf die (immanente) künstlerische Produktion, die Umwandlung von Farben in reine Abstraktion bzw. – ex positivo – in reine Gegenständlichkeit. Hier wird die Nahtstelle von machen und rezipieren, Künstler und Betrachter evident. Was dem Betrachter als fertiges Produkt vor Augen steht, ist für den Künstler Teil eines übergreifenden zeitlichen, meditativen und lebendigen Prozesses, dessen Dynamik Luther durch die Gegenüberstellung der unvollendeten Arbeit "art" und der farbabstrakten "brushstrokes 1" im Rahmen eines fotorealistischen Atelierbildes darstellt. Mit dem Atelierbild zieht Luther - am Ort des Geschehens - eine Zwischenbilanz seines künstlerischen Schaffens, das aus formalen Gesichtspunkten kaum heterogener ausfallen könnte.
 
Bekannt wurde der 1964 in Bad Saulgau geborene Künstler durch ins Monumentale gesteigerte, fotorealistische Farbkompositionen, wie "Colourado" oder "die große Liebe". Als Sujet dient hier das Farbmaterial selbst, das Luther aus Tuben presst, übereinanderschichtet, als Details abfotografiert und auf die Leinwand überträgt. So entstanden allein für „die Große Liebe" ca. 1500 Fotos, aus deren Bestand der Künstler die Vorlagen für die Umsetzung auf Leinwand auswählte. In "Colourado", einer Arbeit mit den gigantischen Ausmaßen von 3 x 13,3 Metern, türmen sich die Farbmassen zu einer eruptiven Gebirgslandschaft. Die Farbe, das Mittel der Malerei und ihrer Gegenstandsbezeichnung, wird selbst zum Bildgegenstand. Was ist hier Mittel, was Motiv?, fragt man sich angesichts dieser Pathosformel reiner Malerei, und welche Fenster öffnet dieser mit Glanzlichtern versehene, altmeisterlich anmutende Illusionismus? Dass Luther bei der conditio sine qua non des aktuellen Kunstbetriebs, der geradezu obligatorischen Selbstreflexion der Malerei als Malerei (man denke an seine ironische Verwertung des Bildes von Tim Eitel) keineswegs stehen bleibt, macht das Faszinosum seiner Kunst aus. Durch die Monumentalisierung des Formats und das vexierende Umschlagen des Bildmotivs in die Gegenständlichkeit einer Gebirgslandschaft – wobei eo ipso die Lesbarkeit der an sich abstrakten Farbmassen gewahrt bleibt – erzeugt Luther eine innerbildliche Welthaltigkeit von geradezu metaphysischer Wucht. Schönheit und Schroffheit, treffen unvermittelt aufeinander, malerische Delikatesse und archaische Sinnlichkeit verführen den Betrachter und unterminieren seine ästhetische Distanz. Die überdimensionierte Vergrößerung des Farbmaterials, das scheinbar Zufällige der Motivwahl und Ungeschlachte der Formen sprengen die auf Maßstäblichkeit und Korrespondenz angelegte Erwartungshaltung des Betrachters; eine Irritation, die umso grundsätzlicher ausfällt, als Luther keine virtuellen Produkte seiner Phantasie, sondern "reale Dinge" mit äußerster Präzision darstellt. Nicht zuletzt durch diese doppelte Strategie der Bildwirkung, von Schönheit und Schroffheit entzieht sich Luther der einfachen Verwertbarkeit durch den Kunstbetrieb – und reflektiert diese als existenziell empfundene Disproportion in seiner Malerei.
 
In "2 x blau" konfrontiert Luther zwei Arbeiten, die auf den ersten Blick auf eine Gegenüberstellung gegenständlicher und abstrakter Bilddarstellung angelegt zu sein scheinen. In beiden Bildern verwendet er exakt die gleichen 10 Farben, in deren Mischungsverhältnissen die Farbe blau dominiert. Auch wenn Himmel und Wasser als spontane Assoziationen durchaus intendiert sind, geht es dem Künstler nicht um die Darstellung eines bestimmten Motivs, vielmehr um das Potenzial von Farbe, um ihre materielle, elementar-dramatische Verdichtung und ätherische Entgrenzung. Der Titel markiert demnach die Farbe blau als Grenzerfahrung der natürlichen, ästhetischen Wahrnehmung; einer Erfahrung elementarer und spiritueller Kräfte, deren Ganzheit durch die Verwendung 10 identischer Farben konstituiert wird. Vor dem universalen Hintergrund der Farbe blau und ihrer Manifestation extremer Seinszustände werden formale kunsthistorische Klassifikationen wie gegenständlich und abstrakt obsolet weil austauschbar.
 
Wer wie Luther Malerei transzendental begreift, also die Bedingung der Möglichkeit künstlerischer Produktion reflektiert, wird neben den Mitteln unweigerlich auch die Historizität der Kunst und ihre ‹bersetzung in die Gegenwart thematisieren. Wenn man etwa die jüngst entstandene Arbeit "einsam und allein" ins Verhältnis zu seinem Vorbild, Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" von 1808/09 setzt, wird Luthers Aneignungsstrategie der historischen Vorlage deutlich: Motivverdoppelung und Miniaturisierung. Luthers Aneignung handelt von der Entauratisierung eines Sinnbildes, das Kleist einmal mit den Worten: "wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären" beschrieben hatte, dem Sinnbild einer längst zum Andachts- und Postkartenkitsch popularisierten Romantik, – und seiner pathosfreien Wiederherstellung. Denn der Respekt, den Luther dem Vorbild zollt, liegt paradoxerweise in seiner Verdoppelung und Realisierung im kleineren Maßstab. Weit davon entfernt, die Vorlage bloß zu kopieren, ist die Aneignung für Luther ein meditativer, schöpferischer Prozess, den er mit gleicher Konzentration zweifach vollzieht, um zwei annähernd identische Abbilder hervorbringen zu können. Dabei verhindert die Verkleinerung des Motivs, die den Betrachter zum genauen Hinsehen zwingt, ein sentimentales Aufgehen in einem, wie auch immer gearteten, kosmischen Ganzen. Damit ist "einsam und allein" auch die Geschichte einer Beziehung, die auf die Unerfüllbarkeit des romantischen Sehnsuchtsmotivs anspielt.
 
Mit der Aneignung von Paul CÈzannes "Drei Schädel auf einem Orientteppich" von 1904 geht Luther einen entscheidenden Schritt weiter. Nicht meditativer Nachvollzug, sondern Neuformulierung und ‹bersetzung in die Gegenwart ist hier das Thema. In Gegenbewegung zur Rezeption von Friedrichs "Mönch" verdoppelt der Künstler hier die Bildmaße: von 54 x 64 cm auf 110 x 130 cm. Aus einer morbiden memento mori – Darstellung, Sinnbild von Auflösung und Zerfall, wird in "Hundert Jahre - nach CÈzanne" eine Präsentation dreier Schädel von beängstigender und aggressiver Gegenwart. Während bei CÈzanne Schädel und Blumen aus dem vielfach aufgeworfenen Orientteppich zu wachsen scheinen, erinnert Luthers Draperie mehr an eine weitläufige, von Kratern übersäte Landschaft, die sich zum Vordergrund hin zu einem Bausch aufwirft, als wollte sie nach dem Betrachter greifen. Die Zähne bleckenden, in ein kühles Licht getauchten Schädel scheinen den Betrachter zu fixieren, ihm spiegelbildlich ihre von Gewalt und Tod geprägte Geschichte vorzuhalten.
 
Spätestens bei der Betrachtung von "Hundert Jahre - nach Cèzanne" fragt man sich, inwieweit die platonische Trennung von Urbild und Abbild im Werk von Michael Luther überhaupt aufrecht zu erhalten ist. Angesicht der ausufernden Konsumption virtueller Bilder im Zeitalter medialer Vermittlung und der damit verbundenen Primärerfahrungen werden Abbilder zu Urbildern, verlieren die Urbilder ihre singuläre Aura und werden selbst zu Abbildern. In diesem Spiegelkabinett medialer Bildbrechungen und –deutungen geht Luther einen eigenständigen und widerständigen Weg, dessen stilistische Heterogenität ebenso irritiert wie den Blick für Gleichzeitiges im weiten Feld des Ungleichzeitigen, für die Dialektik von Urbild und Abbild schärft.

 
Velten Wagner, 2007 | Katalogtext zu „Michael Luther – im Bilde“